Geopolitischer Brennpunkt Ukraine


Die Ukraine als Dreh- und Angelpunkt

Von Michel Buckley

Präsident Janukowytsch und Oppositionsführerin Timoshenko

Die Ukraine steht wegen der Fußball-Europameisterschaft wieder in den Schlagzeilen. Die Haftbedingungen der ukrainischen Oppositionspolitikerin Julija Timoshenko haben aber auch für eine Kontroverse gesorgt, die seit Ende April durch zahlreiche EM-Boykott-Aufrufe vor allem von deutschen Politikern eine internationale Dimension angenommen hat. Es stehen sich wieder die alten Kontrahenten der „orangenen Revolution“ von 2004, Timoshenko und der aktuelle Präsident Wiktor Janukowytsch, gegenüber und europäischer Politike setzen sich für die Oppositionspolitikerin ein – bis hin zum diplomatischen Affront. Dies sollte Anlass sein, sich die geopolitische Bedeutung des nach Russland flächen- und einwohnermäßig größten Landes Mittel- und Osteuropas einmal genauer anzusehen.

Von der Ukraine (Russisch für „Grenzland“) als geopolitischem Akteur kann man erst seit ihrer Unabhängigkeit 1991 sprechen. Doch seither – wie auch zur Zeit ihrer ersten kurzen Unabhängigkeit 1917 bis 1921 – ist sie wegen ihrer geografischen Lage Großmachtinteressen ausgesetzt. Die Ukraine ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt für die Rivalität der Westmächte mit Russland. Den Schlüssel zum Verständnis dieser Situation bietet das Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ von Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter und seither graue Eminenz des außenpolitischen Establishments der USA.[1] In diesem 1997 veröffentlichten Buch, einer Art Blaupause für die Geostrategie der amerikanischen Vorherrschaft, geht er ausführlich auf die Bedeutung der Ukraine ein. Bei seiner Analyse stützt er sich auf die Konzepte des englischen Geopolitikers Halford J. Mackinder (1861-1947), der von einer Zentralregion (dem Heartland) in der Mitte der eurasischen Landmasse spricht und dies als geographischen Angelpunkt der Geschichte (Geographical Pivot of History – in der Karte „Pivot Area“) ausmacht.[2] Dies ergibt sich aus dessen geografischer Lage: Zentralasien und Sibirien sind für ihn uneinnehmbare Festungen, für Seemächte unerreichbar und daher in der Geschichte immer wieder Ausgangspunkte für Invasionen an den Rand des eurasischen Kontinents. Heutzutage ist es Russland, das dieses Herzland beherrscht. Mackinder hat aber auch die Beudeutung Osteuropas theorisiert.
So schrieb er 1919:
„Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland:
Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel.
Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“ [3]

Gut 80 Jahre später ist die Bedeutung der Weltinsel, also der eurasischen Landmasse für Brzezinski immer noch zentral, da sich dort 75% der Weltbevölkerung, 60% der globalen Wirtschaftsleistung, und, nicht zu unterschätzen, auch 3/4 der weltweit bekannten Energievorkommen befinden. Fast alle politisch und militärisch maßgeblichen Staaten (mit Ausnahme eben der USA) befinden sich ebenfalls in Europa und Asien.[4] Die Vorherrschaft über diesen Kontinent ist für die außereurasische Supermacht USA daher von zentraler Bedeutung, will sie ihre Vorherrschaft über die Welt bewahren. Militärbündnisse wie die NATO garantieren ihre politische und militärische Präsenz auf diesem Kontinent.

Osterweiterung der NATO und der EU

NATO-Osterweitung und die Ukraine. Bildquelle: Wikipedia

Brzezinski spricht eigentlich nur offen aus, was im außenpolitischen Establishment der USA sowieso common sense ist. So schreibt John Lewis Gaddis, ein Historiker des Kalten Krieges, dass die Formulierung der gegen die UdSSR gerichtete Containment- (Eindämmungs-)Politik Ende der 1940er Jahre maßgeblich von den geopolitischen Konzeptionen Mackinders beeinflusst war.[5] Der erste NATO-Generalsekretär, Lord Ismay, hatte den geopolitischen Zweck seiner Organisation folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „to keep the Americans in, keep the Russians out and keep the Germans down.“ Die Russen sollten also draußen, die Deutschen unten, und die Amerikaner drinnen gehalten werden – auf dem europäischen Kontinent. Dies erklärt auch die sicherheitspolitische Entwicklung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges: Während sich der Warschauer Pakt auflöste und die UdSSR ihre Truppen aus Mittel – und Osteuropa zurückzog und schließlich selber auseinanderbrach, blieben die USA nicht nur militärisch und politisch in Europa präsent – entgegen Gorbatschow 1990 gemachter Zusagen dehnten sie durch die NATO-Osterweiterung ab 1999 ihren Einfluss bis ins ehemalige Staatsgebiet der Sowjetunion aus (die drei baltischen Staaten) und bis an die Grenze der Ukraine.

Die gleichen Länder traten 2004 und 2007 auch der EU bei, was zeigt, dass die Erweiterungen der beiden westlichen Staatengemeinschaften ergänzend verläuft und auch von den Osteuropäern als zwei Seiten ein- und derselben Medaille betrachtet werden. Ein Gebiet von 1.800.000 km² mit 200 Millionen Einwohnern zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer kam so in den Machtbereich der NATO und hat die Grenze zwischen der „westlichen Wertegemeinschaft“ und dem Einflussbereich Moskaus weit nach Osten verschoben. Diese Entwicklung veranlasste Russlands Präsident Wladimir Putin zu der Bemerkung, der Zerfall der UdSSR sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen.

Die Bedeutung der Ukraine für Russland

Brzezinski empfiehlt auch, „die geografisch kritischen eurasischen Staaten ins Auge zu fassen, die aufgrund ihrer geografischen Lage und/oder ihrer bloßen Existenz entweder auf die aktiveren geostrategischen Akteure oder auf die regionalen Gegebenheiten wie Katalysatoren wirken“. Dies sind „Geopolitische Dreh- und Angelpunkte“, zu denen er die Türkei, den Iran, Südkorea, Aserbaidschan und eben die Ukraine zählt. Über diese schreibt Brzezinski: „Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde dann aber ein vorwiegend asiatisches Reich werden (…). Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.“[6] Brzezinski weiter: „Am beunruhigsten [für Russland] war der Verlust der Ukraine. Das Auftreten eines unabhängigen ukrainischen Staates zwang nicht nur alle Russen, das Wesen ihrer eigenen politischen und ethnischen Identität neu zu überdenken, sondern stellte auch für den russischen Staat ein schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar. (…) Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland zudem seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war. (…)“[7] Mit ihrer slawisch-orthodoxen Bevölkerung und ihrer geografischen Lage ist die Ukraine somit essentiell wichtig für Russland um wieder zu der Großmacht zu werden, die sie einmal war.

Die Ukraine wurde von den Russen stets als Teil ihrer Identität betrachtet – die Kiewer Rus, ein Großreich vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, wird von der russischen Geschichtsschreibung als Keimzelle des heutigen Russland betrachtet, die ukrainische Hauptstadt also als dessen Wiege. Die Ukraine war ab dem 16. Jh. drei geopolitischen Kraftfeldern ausgesetzt – dem muslimischen Osmanischen Reich im Süden, das sich immer mehr zurückzog, dem katholischen Polen im Nordwesten, und dem orthodoxen Russland im Nordosten. Am Ende des 18. Jahrhundert setzte sich Russland endgültig gegen seine beiden Rivalen durch. Lediglich der äußerste Westen der heutigen Ukraine – Galizien – kam bis 1918 unter österreichische Herrschaft. Die Südukraine, das einstige Herrschaftsgebiet der Osmanen und später der Kosaken wurde mit Russen besiedelt (dort befanden sich die „Potemkischen Dörfer“).

Polen-Litauen 1569 und die heutigen Grenzen der Ukraine

Der Zugang zum Schwarzen Meer

Der Zugang zum Schwarzen Meer und ganz generell zu den Weltmeeren hatte immer eine besondere Bedeutung für Russland. Betrachtet man seine geografische Lage, so ist Russland hauptsächlich eine Landmacht, das zwar über eine lange Küste verfügt – aber hauptsächlich zum Nordpolarmeer. Es blieb lange Zeit ohne Zugang zu warmen Meeren. Der Zugang zur Ostsee war durch Schweden versperrt und das Schwarze Meer rein osmanisch. Russlands übergeordnetes geopolitisches Ziel und der entscheidende Antrieb für seine territoriale Expansion war daher seit jeher einen Zugang zu den Weltmeeren zu erlangen. Erst dieser Zugang machte aus Russland eine wirkliche Großmacht. Durch den Sieg über Schweden im Großen Nordischen Krieg (1700-1721) gewann Russland unter Zar Peter dem Großen einen Zugang zur Ostsee und verlegte dorthin seine Hauptstadt. Im späten 18. Jahrhundert gewann es unter Katharina der Großen auch den Zugang zum Schwarzen Meer, wo 1794 die Hafenstadt Odessa gegründet wurde.[8] Doch auch die Ostsee und das Schwarze Meer sind durch Meerengen (bei Kopenhagen und Konstantinopel) von den Weltmeeren getrennt, so dass Russland noch im gesamten 19. Jahrhundert versuchte, die Kontrolle über den Bosporus zu gewinnen. So geriet es zwangsläufig in einen Interessensgegensatz mit der Seemacht Großbritannien, das dem Mittelmeer als Seeweg nach Indien eine entscheidende geostrategische Bedeutung beimaß. London unterstützte im gesamten 19. Jahrhundert das siechende Osmanische Reich gegen die russische Expansion in den Mittelmeerraum. Auch in Zentralasien rivalisierte Russland mit Großbritannien, um einen Zugang zum indischen Ozean zu erhalten (das so genannte „Great Game“). Diese Rivalität spitzte sich im Krimkrieg (1853-1856) zu, den England zusammen mit Frankreich und den Osmanen gegen Russland führte. Der britische Premier Palmerston strebte sogar an, Russland von seinem im 18. Jahrhundert erworbenen Zugang zur Ostsee und zum Schwarzen Meer wieder zu berauben. Doch für dieses sehr ehrgeizige Ziel fehlten ihm und seinen Verbündeten die Mittel.[9] So wurde die Belagerung von Sewastopol, der Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel Krim zum Hauptkriegsschauplatz, was dessen geostrategische Bedeutung unterstreicht.
Auch heute noch ist dieser Stützpunkt von entscheidender Bedeutung. Er ist einer der vier großen Flottenstützpunkte Russlands und ist unverzichtbar für die russische Machtprojektion im Mittelmeerraum. Die Präsenz der Schwarzmeerflotte macht aber auch einen NATO-Beitritt der Ukraine quasi unmöglich. Daher war es seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 immer das Ziel prowestlicher Politiker, insbesondere vom Expräsidenten Juschtschenko, gewesen, diese von der Krim zu vertreiben. Daher war auch die Entscheidung des derzeitigen Präsidenten Janukowytsch vom April 2010 so bedeutsam, den Pachtvertrag der Schwarzmeerflotte bis 2042 zu verlängern – damit wurde ein Beitritt der Ukraine zur Atlantischen Allianz auf lange Sicht unmöglich gemacht. Kurze Zeit später strich das ukrainische Parlament folgerichtig das Ziel eines NATO-Beitritts aus der Nationalen Sicherheitsstrategie des Landes.

Gespaltene Ukraine

Sprachen und Ethnien der Ukraine. Bildquelle: Wikipedia

Die jahrhundertelange Teilung der Ukraine in einen polnisch und einem russisch beherrschten Teil wirkt bis heute nach.

Man kann von zwei oder drei grundverschiedenen Ukrainen sprechen. Die Spaltung verläuft am deutlichsten entlang der Sprache – ist im Osten und Süden Russisch die am meisten gesprochene Sprache, so wird die offizielle Landessprache Ukrainisch (mit dem Russischen verwandt, aber dennoch eine völlig eigenständige Sprache – in etwa vergleichbar mit Deutsch und Niederländisch) hauptsächlich in der Mitte und im Westen des Landes gesprochen, den ehemaligen Herrschaftsgebieten Polens und Österreichs (siehe Karte). Unklar und je nach Erhebung unterschiedlich fällt die Antwort auf die Frage aus, wie sehr diese Sprachen in der Ukraine gebräuchlich sind. Zwar wurde ein Anteil von 67,5% an ukrainischen Muttersprachlern ermittelt, dennoch sprechen sich nach Umfragen 49% der Ukrainer für einen offiziellen Status der russischen Sprache aus.[10] Die politische Brisanz der Sprachenfrage wurde erst kürzlich in der tumultartigen Parlamentsdebatte über das neue Sprachgesetz deutlich, das Regionalsprachen wie dem Russischen (aber auch dem Ungarischen, Rumänischen und Bulgarischen) einen offiziellen Status gewährt.[11]

Ergebnisse der Präsidentschaftswahl 2010. Bildquelle: Wikipedia

Die Sprachenfrage ist die eigentliche Bruchlinie im politischen Leben der Ukraine. Sie definiert die Zugehörigkeit zu den beiden politischen Lagern. Auf der einen Seite stehen die 2004 siegreichen „Orangenen“, den Anhängern Timoshenkos und Juschtschenkos, die in der Tradition des ukrainischen Nationalismus stehen und vor allem im ukrainischsprachigen Teil in der Mitte und im Westen gewählt werden. Das Bekenntnis zum Nationalismus führt sogar zur Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren, wie dem einstigen Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), Stepan Bandera, der im 2. Weltkrieg auf Seiten der Wehrmacht kämpfte und vor allem in Lwiw (Lemberg) mit Denkmälern und Straßenbenennungen geehrt wird. Expräsident Juschtschenko verlieh ihm posthum gar den Titel „Held der Ukraine“. [12] Auf der anderen Seite stehen die „Blauen“, der vor allem in der Partei der Regionen organisierten Anhänger des gegenwärtigen Präsidenten Janukowytsch, der selber kaum Ukrainisch spricht, und ihre Hochburgen im russischsprachigen Teil im Osten und Süden hat. Eine schroffe Trennung in zwei Landesteile, die sich zuletzt auch in den Ergebnissen der Präsidentschaftswahl 2010 widerspiegelte, in der sich Timoshenko und Janukowytsch gegenüber standen (siehe Karte).

Die Spaltung der Ukraine verläuft auch auf wirtschaftlichen Gebiet – während der Westen eher agrarisch geprägt ist, dominiert im Osten die Kohle- und Stahlproduktion. Dementsprechend haben sich in der Ukraine auch zwei Kapitalfraktionen entlang dieser West/Ost-Trennlinie herausgebildet. Diese greifen ganz offen in die ukrainische Politik ein. Bekannt ist Julija Timoshenkos Spitzname als „Gasprinzessin“, den sie sich in den 90er Jahren als Chefin des Energiekonzerns EESU (Vereinte Energiesysteme der Ukraine) erwarb. Nebenbei erwarb sie auch ein Privatvermögen von geschätzten mehreren Hundert Millionen Dollar. Der andere Held der „orangenen Revolution“, Wiktor Juschtschenko stand Unternehmern der West- und Zentralukraine nahe. Der Favorit der Schwerindustrie des Ostens ist der aus Donetzk stammende Janukowytsch. Er gilt als Protégé von Rinat Achmetow, dem mit einem Vermögen von 16 Milliarden Dollar reichsten Mann der Ukraine.[13]

Sowohl die Kluft in der ukrainischen Bevölkerung, als auch die verschiedenen wirtschaftlichen Interessen führen zu unterschiedlichen Vorstellungen über den Platz der Ukraine in der Welt. Im ukrainischsprachigen Teil sieht man das Land als Teil Europas und der „westlichen Staatengemeinschaft“, während der russischsprachige Teil nach Moskau neigt.

Die Orangene Revolution und ihre Folgen

Orangene Revolution 2004. Bildquelle: Wikipedia

In der „Orangenen Revolution“ nach der Präsidentschaftswahl von 2004 spitzte sich dieser Gegensatz zu. Hier zeigte sich auch eine ganz offeneInstrumentalisierung der innerukrainischen Gegensätze von außen. Während Russlands Präsident Putin offen Wiktor Janukowytsch unterstützte, wurde das pro-westliche, „orangene“ Lager, angeführt vom Kandidaten Wiktor Juschtschenko, von westlichen Stiftungen wie der Open Society Foundation des Investmentbankers George Soros, sowie regierungsnahen US-Stiftungen wie der National Endownment for Democracy oder Freedom House unterstützt. Die besonders aktive Jugendorganisation Pora! („Es ist Zeit!“) entstand nach den Vorbilden von Otpor! („Widerstand“) in Serbien und Kmara! („Es ist genug!“) in Georgien, die in ihren Ländern bereits erfolgreich einen pro-westlichen „Regime change“ herbeigeführt hatten. [14]Die orangefarbene Revolution war zunächst siegreich – der Druck der Straße (wie auch der diplomatische Druck des Westens) war so stark, dass die von Wahlfälschungsvorwürfen überschattete Stichrunde der Präsidentschaftswahl, bei der zunächst Janukowytsch zum Sieger erklärt wurde, wiederholt werden musste. Am Ende siegte Juschtschenko. Doch die Spannungen nicht nur zwischen den beiden politischen Lagern, sondern auch zwischen den beiden Landesteilen, erreichten im Winter 2004/2005 ihren Höhepunkt. Das Land stand vor der Spaltung: Politiker aus dem Osten drohten offen damit, sich von Kiew loszusagen. Doch nach nicht einmal einem Jahr war das orangene Lager bereits zerstritten und Juliya Timoshenko als Regierungschefin entlassen. Die Präsidentschaft Juschtschenkos war vom fast jährlich wiederkehrenden „Gasstreit“ über die Durchleitungsgebühren von russischem Gas in die EU geprägt, bei dem Moskau seine Muskeln spielen liess und der Ukraine den Gashahn zudrehte. Der „Gasstreit“ wurde erst 2009 durch ein von der erneut zur Ministerpräsidentin ernannten Timoshenko vereinbarten und für die Ukraine unvorteilhaften Abkommen beendet. Die von Juschtschenko angestrebte NATO-Mitgliedschaft scheiterte: Beim Gipfel der Atlantischen Allianz 2008 in Bukarest gab es keinen Konsens über die Aufnahme der Ukraine (und Georgiens) in den „Membership action plan“. Während die US-Regierung darauf drängte, wurde dies vor allem von Frankreich und Deutschland abgelehnt. Der siegreiche Krieg Russlands gegen Georgien im August 2008 machte jede weitere NATO-Erweiterung im postsowjetischen Raum praktisch unmöglich.

Bei der Präsidentschaftswahl 2010 hatte sich die Interessenlage zwischen den beiden Blöcken verändert: Während sich das Verhältnis der „Gasprinzessin“ Timoshenko zu Russland verbessert hatte, war die Schwerindustrie des Donbas nicht mehr so russlandfreundlich wie einst und befürwortete eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Sie hatte besonders unter dem Gasabkommen von 2009 zu leiden, das zu höheren Energiepreisen im Land geführt hatte. Der neue Präsident Janukowytsch verfolgte eine unabhängige Politik, und blieb gegenüber Russland und dem Westen auf Äquidistanz. Einerseits wurde der Pachtvertrag der Schwarzmeerflotte verlängert und jegliche Bemühung um eine NATO-Mitgliedschaft aufgegeben, andererseites verweigerte Janukowytsch den Beitritt seines Landes zur von Russland, Weißrussland und Kasachstan gebildeten eurasischen Zollunion und strebte stattdessen einen Beitritt zur EU an. Janukowitsch selbst hatte nach seinem Amsantritt von einer „blockfreien“ Ukraine gesprochen, die sich als „eine Brücke zwischen Russland und der EU“ versteht. [15] Seit 2011 sind die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen, doch einer Ratifizierung steht die Verurteilung und Inhaftierung Timoshenkos (wegen vermeintlichem Amtsmissbrauch im Zusammenhang mit dem Gasabkommen von 2009) im Wege: Nun gab es Vorbehalte von vielen europäischen Ländern gegen die Ukraine. [16] Bilder von mutmaßlichen Mißhandlungen Timoshenkos im Gefängnis im April 2012 führten zu einer weitgehenden Isolierung des Landes. Auch wenn Beobachter davon ausgehen, dass nach den Parlamentswahlen im Oktober die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens wieder aufgenommen werden könnte, [17] hat sich Janukowytsch nach dem starken Gegenwind aus dem Westen wieder Moskau angenähert – so lud er den russischen Präsidenten Putin zu einem Staatsbesuch ein und bekundete Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem eurasischen Wirtschaftsraum. [18] Moskau hat es in den letzten Jahren bereits geschafft, die Kontrolle über weite Teile der ukrainischen Sicherheitskräfte zu gewinnen [19] und zusammen mit den Tendenzen zur Russifizierung während der Präsidentschaft Janukowytschs ist Russland seinem Ziel, Ukraine wieder in seinen Machtbereich zu integrieren, näher gekommen.

[1] Brzezinski, Zbigniew : Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997.
Brzezinski war Mentor von Clintons Aussenministerin Madeleine Albright. Durch seine Mitgliedschaft im Think-Tank Center for Strategic and International Studies (CSIS), dem auch Henry Kissinger angehört, reicht sein Einfluss auch in die Reihen der Republikaner.
[2] Mackinder, Halford John: The Geographical Pivot of History, The Geographical Journal, Jg. 23 (1904), Nr. 4. Hier abrufbar.
[3] Mackinder, Halford John: Democratic Ideals and Reality, London 2009/1919, S. xxiii.
[4] Brzezinski, S. 54.
[5] Gaddis, John Lewis: Strategies of Containment, Oxford 1982, S. 57.
[6] Brzezinski, S. 74
[7] Brzezinski, S. 136
[8] Dominic Lieven: Empire. The Russian Empire and its Rivals, London 2000, S. 141.
[9] Lieven, S. 210.
[10] Halbe Ukraine will Russisch als zweite Landessprache, in: RIA Novosti, 07.09.2011. Hier abrufbar.
[11] Wüste Schlägerei in der ukrainischen Obersten Rada, in: Russland Online, 26.05.2012. Hier abrufbar.
[12] Ulrich Heyden: Ukraine: Überraschungsei von Viktor Juschtschenko, 01.02.2010. Hier abrufbar. 
[13] Stahlbarone und Gasprinzessin, in: Die Zeit, 12.04.2007. Hier abrufbar.
[14] Die Revolutions-GmbH, in: Der Spiegel, 14.11.2005. Hier abrufbar.
[15] Ukraine: Janukowitsch kündigt West-Kurs an, in: Handelsblatt.de, 26.02.2010. Hier abrufbar
[16] Abkommen bringt Ukraine auf Reformkurs, in: Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft, 19.12.2011. Hier abrufbar.
[17] Fall Timoschenko überschattet EU-Ukraine-Beziehungen, in: RIA Novosti, 02.03.2012. Hier abrufbar.
[18] Janukowitsch lädt Putin nach Tschernobyl ein, in: RIA Novosti, 15.05. 2012. Hier abrufbar.
[19] Taras Kuzio: Russia Takes Control of Ukraine´s Security Forces, in: Jamestown Foundation, 19.03.2012. Hier abrufbar.

6 Responses to “Geopolitischer Brennpunkt Ukraine”

  1. Bei all diesen strategischen Überlegungen und Machtkämpfen sehen wir Menschen wirken, die Aufgrund der Machtwirkungen von Hierarchien einen gewissen Vorteil haben, an die Spitze dieser Pyramiden zu gelangen. Und weil kaum Jemand von den Charakteren weiß, heben wir sie auch immer wieder auf unsere Throne. Andreas Felten hat in den letzten Tagen recherchiert und heute den Artikel „Seelenfresser“ veröffentlicht:
    http://faszinationmensch.wordpress.com/2012/06/22/die-seelenfresser/

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