Was ist in Abchasien los?


Einige Hintergründe zum westgeorgischen stabilisierten De-facto-Regime

Von David X. Noack

Unruhen und der vielleicht erfolgte Sturz der Regierung der Abchasischen Republik prägen derzeit die Nachrichten aus der einstigen „sowjetischen Riviera“. Doch vor allem in der westlichen Presse dominieren einige Missverständnisse die Berichterstattung über Abchasien, welches sich 1992 von Georgien abspaltete und dessen Unabhängigkeit bis heute lediglich von den UN-Mitgliedern Russland, Venezuela, Nicaragua und Nauru sowie den weiteren stabilisierten De-facto-Regimen Südossetien, Transnistrien und Berg-Karabach anerkannt wird.

Die russische Annektierung der zwei georgischen Königreiche im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts brachte auch Teile Abchasiens unter zarisch-russische Kontrolle. Das komplette Gebiet konnten die zarischen Behörden erst 1864 als in russischer Hand ansehen. Die Oktoberrevolution im Jahr 1917 brachte zunächst Chaos in die kaukasischen Gebiete. Der neugebildete transkaukasische Sejm lehnte in einer Entscheidung aus dem Jahr 1918 den Vertrag von Brest-Litovsk ab. Eine Delegation des Sejm ins osmanisch kontrollierte Trabzon wurde mit der Forderung konfrontiert, den Brester Frieden anzuerkennen oder die sofortige Erklärung der Unabhängigkeit der Kaukasusregion einzuleiten. Angesichts der ins kaukasische Gebiet vorrückenden osmanischen Truppen erkannte die Delegation den Frieden vom 3. März 1918 an.[1] Einen Monat später eroberten abchasische Bauernmilizen unter Nestor Lakoba Suchum, die heutige Hauptstadt Abchasiens, wurden jedoch von georgischen Milizen wiederum einen Monat später zurückgedrängt.

Lakoba Nestor, 1. Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der Abchasischen SSR von 1922 bis 1936

Lakoba Nestor, 1. Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der Abchasischen SSR von
1922 bis 1936

Drei Jahre später marschierte die Rote Armee in Kerngeorgien und Abchasien ein. Im März 1921 erklärten Vertreter des Kaukasischen Büros der Kommunistischen Partei Russlands die Abchasische Sozialistische Sowjetrepublik, welche als gleichberechtigter Gliedstaat neben Georgien, Armenien und Aserbaidschan Teil der Transkaukasischen Föderativen Sowjetrepublik wurde. In den 1920er und 1930er Jahren schwankte der Status Abchasiens abhängig davon wie sich Nestor Lakoba, der ab 1922 als Vorsitzender des Obersten Sowjets Abchasiens amtierte, den Anweisungen Stalins fügte oder auch nicht. Als sich Lakoba in den 1930er Jahren zunehmend Stalin widersetzte, endete Abchasien als Autonome SSR im georgischen Staatsverband.[2] Im Zweiten Weltkrieg diente das Kohlerevier von Tkuartschal in Ostabchasien als wichtiges Reservoir für sowjetische Kohle, da der Donbass von Truppen der Achsenmächte besetzt war. Von den 1950er bis 1980er Jahren prosperierte die „sowjetische Riviera“ als Urlaubsgebiet für viele Sowjetbürger. Abchasien galt als wohlhabende Region in der sowjetischen Zeit.[3] Doch der Reichtum weckte Begehrlichkeiten. Immer wieder widersetzen sich abchasische Spitzenpolitiker diversen Georgisierungsbestrebungen aus Tiflis.

Als sich 1991 der Georgische Oberste Sowjet für unabhängig erklärte, widersetzte sich das Parlament Abchasiens diesem Beschluss. Zuvor hatten knapp 90 % der Abchasier in einem Referendum für den Fortbestand der UdSSR ausgesprochen. Im Juli 1992 beschloss das Parlament Abchasiens die Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1925, als das Gebiet den Status einer „souveränen Sowjetrepublik“ hatte.[4] Einen Monat später begann der Georgisch-Abchasische Krieg. Auf abchasischer Seite kämpften dabei circa 1.500 Freiwillige der Konföderation der Völker des Kaukasus – auf georgischer Seite wiederum ukrainische Faschisten der UNA-UNSO. Mehrere Waffenstillstandsabkommen liefen ins Leere. 1994 standen abchasische Einheiten kurz davor, die georgische Hafenstadt Poti einzunehmen. Wäre das geschehen, hätte Georgien vor dem endgültigen Zerfall in Abchasien, Adscharien, Südossetien, Dschawachetien und Kerngeorgien gestanden. Um das zu verhindern, ließ der damalige russische Präsident Boris Jelzin russische Marineinfanteristen der Schwarzmeerflotte nach Poti entsenden, womit er quasi die territoriale Integrität Georgiens rettete.[5] Für Jelzin galt die Unantastbarkeit der postsowjetischen Grenzen als oberstes politisches Gebot. Ein Waffenstillstand unter Aufsicht der GUS garantierte den Frieden in der Region.

Der Krieg hatte zur Folge, dass die Mehrheit der georgischen Bewohner im Westen des Landes vor abchasischen Einheiten flohen und einige sogar Opfer von „ethnischen Säuberungen“ wurden.[6] Die anderthalb Jahrzehnte nach dem Georgisch-Abchasischen Krieg konzentrierten sich die verschiedenen abchasischen Regierungen auf den Wiederaufbau des größtenteils zerstörten Landes. Zugute kam den Abchasiern dabei, dass durch die Fruchtbarkeit des Bodens und die für die Landwirtschaft idealen klimatischen Bedingungen die abchasische Bevölkerung keine Lebensmittel importieren muss. Außerdem garantieren Bauten aus der sowjetischen Ära wie der Inguri-Staudamm die Versorgung der gesamten abchasischen Bevölkerung mit Strom – besser als beispielsweise in Tiflis in den 1990er Jahren.[7]

Nach dem von georgischer Seite begonnenen Kaukasuskrieg im Jahr 2008 erkannte Russland die Unabhängigkeit Abchasiens an. Dieser Schritt stellte den Durchbruch der Eigenständigkeitsbestrebungen der abchasischen politischen Führung dar. Dem russischen Beispiel folgten Nicaragua, Venezuela sowie die Pazifikinselstaaten Nauru, Vanuatu und Tuvalu – letztere beide zogen ihre Anerkennung jedoch wieder zurück. Vertreter Serbiens, von Belarus und der Dominikanischen Republik äußerten, dass ihre Länder bereit seien, die Unabhängigkeit Abchasiens anzuerkennen, jedoch fürchteten sie Sanktionen der EU und USA, sollte es zu solch einem Schritt kommen.[8] Belarussische Konzerne betreiben trotzdem Handel mit Abchasien, beispielsweise zählte im Jahr 2011 die Kaukasusregion zum Hauptabsatzgebiet der Grodnoer Tabakfabrik Neman.[9]

Die abchasische Regierungen unter Präsident Sergej Bagapsch (im Amt 2005 bis 2011) und nach dessen Tod von Alexander Ankwab (seit 2011) verfolgten einen Kurs der relativen Selbstständigkeit Abchasiens. Nach der Anerkennung durch Nicaragua und Venezuela reiste Bagapsch nach Lateinamerika, um die abchasisch-venezolanischen und abchasisch-nicaraguanischen Beziehungen auszubauen. Der Präsident schlug sogar vor, dass der staatliche venezolanische Erdölkonzern PdVSA an der Erdölförderung in Abchasien beteiligt werden könnte – ein eindeutiger Vorstoß in Richtung mehr Unabhängigkeit von Russland.[10]

Neben den Beziehungen mit den Staaten, mit denen Abchasien offizielle diplomatische Beziehungen unterhält, florieren aber auch die Beziehungen zu zwei OECD-Staaten, die enge Verbündete Georgiens und der USA sind, nämlich der Türkei und Israel. Die türkisch-abchasischen Beziehungen können auf eine lange Geschichte zurückblicken, da eine größere abchasische Exilgemeinde in der Nordtürkei seit der russischen Eroberung des Kaukasus lebt. Bis 1996 konnten Abchasen mit von der Republik Abchasien ausgestellten Pässen in die Türkei einreisen.[11] Seit 2008 florieren die Handelsbeziehungen zwischen der Türkei und der westgeorgischen Separatistenrepublik – so sollen ungefähr 60 % der abchasischen Importe aus der Türkei stammen und circa 45 % der Exporte Abchasiens in die Türkei gehen.[12] Dies könnte auch dem Kalkül der georgischen Regierung folgen, da das NATO-Land Türkei die Abhängigkeit Abchasiens von Russland mindert. Seit dem Jahr 2011 berät außerdem eine israelische Expertengruppe die abchasische Regierung in Fragen des Gesundheitsbereiches.[13] Im gleichen Jahr schlossen Vertreter Abchasiens und des israelischen Konzerns Global CST weitreichende Verträge über die Lieferung von nicht-offensivem Militärgerät, Sicherheitsequipment sowie Medikamenten nach Abchasien. Global CST verpflichtete sich auch, in den abchasischen Landwirtschaftssektor sowie den Tourismusbereich und den Bergbau zu investieren.[14]

Die Hintergründe der derzeitigen Unruhen in Abchasien bleiben weiterhin unklar. Am Dienstag, den 27. Mai 2014, hatten Demonstranten den Regierungssitz gestürmt und den Präsidenten für abgesetzt erklärt. Raul Chadschimba, auf dessen Karte Russland bei den Präsidentschaftswahlen 2004 gesetzt hatte, soll die Amtsgeschäfte übernommen haben und sich für den Beitritt zur jüngst gegründeten Eurasischen Union bzw. dessen Vorläufer die Zollunion ausgesprochen haben.[15] Die russische Regierung entsandte zwei hochrangige Vermittler, die jedoch noch keine Ergebnisse vorweisen können. Die deutschen und US-amerikanischen Interpretationen über die Gründe des Aufruhrs stochern meist im Dunkeln. Bei Telepolis wird die These vertreten, dass hinter den Ereignissen die massenhafte Vergabe von abchasischen Pässen an georgische Rückkehrer stehen könnte.[16] Die Frankfurter Allgemeine wiederum vermutet, dass es sich um einen „Umsturz von Moskaus Gnaden“ handelt, den Russland initiierte, da Präsident Ankwab sich zuletzt gegen ein Assoziierungsabkommen mit der Russischen Föderation ausgesprochen hatte.[17] Ob der russische Geheimdienst wirklich seine Finger im Spiel hat, wird sich erst noch zeigen.

Eindeutig scheint lediglich, dass Georgien in dem aktuellen Konflikt keine Rolle spielt. Die offizielle abchasische und die georgische Seite bleiben seit 2008 isoliert voneinander.[18] Georgien betreibt zwar Spionage und „andere Formen von feindlichen Aktivitäten“, so der abchasische Außenminister Wjatscheslaw Tschirikba gegenüber der deutschen Presse, scheint jedoch keinen direkten Einfluss auf die Ereignisse in Suchum zu haben.[19] Auch nicht ausgeschlossen ist, dass lediglich zwei Fraktionen den abchasischen Elite miteinander konkurrieren und dabei auf Wohlwollen aus Moskau setzen.[20] Die Lage bleibt weiter unklar.

[1] Arsène Saparov: Why Autonomy? The Making of Nagorno-Karabakh Autonomous Region 1918–1925, in: Europe-Asia Studies, Jg. 64 (2012), Nr. 2 , S. 284.
[2] Timothy Blauvelt: Abkhazia: Patronage and Power in the Stalin Era, in: Nationalities Papers: The Journal of Nationalism and Ethnicity, Jg. 35 (2007), Nr. 2, S. 203-232.
[3] John O’Loughlin/Gerard Toal: How people in South Ossetia, Abkhazia and Transnistria feel about annexation by Russia, washingtonpost.com, 20.03.2014. Hier abrufbar.
[4] Knut Mellenthin: Erkämpfte Souveränität, in: junge Welt, 21.07.2012. Hier abrufbar.
[5] „Gudok“: Für russisch-georgische Beziehungen schlimmer wäre nur ein Krieg, de.ria.ru 25.09.2006. Hier abrufbar.
[6] Neal Ascherson: Ein Staat für sich allein – Abchasien braucht keinen großen Bruder, sondern Nachbarn, Le Monde diplomatique, 16.01.2009. Hier abrufbar.
[7] Svante E.Cornell: Small Nations and Great Powers – A Study of Ethnopolitical Conflict in the Caucasus, London/New York 2001, S. 162.
[8] Mögliche Anerkennung georgischer Separatisten, amerika21.de 02.06.2011. Hier abrufbar.
[9] Neman tobacco exports up 2.4 times in 2011, eng.belta.by 10.01.2012. Hier abrufbar.
[10] David X. Noack: Besuch aus dem Kaukasus für Chávez und Ortega, amerika21.de 26.07.2010. Hier abrufbar.
[11] Abkhazian Access to Turkey Curbed, in: Eurasian Daily Monitor, Jg. 2, Nr. 177, 24.09.1996. Hier abrufbar.
[12] Burcu Gültekin Punsmann: Questioning the Embargo on Abkhazia: Turkey’s Role in Integrating Into the Black, in: Turkish Policy Quarterly (TPQ), Jg. 8 (2009), Nr. 4, S. 77-88 (hier: S. 84). Hier abrufbar.
[13] Anton Krivenuk: Healthy relations between Israel and Abkhazia, georgiatimes.info 27.04.2011. Hier abrufbar.
[14] Yury Simonyan: Israel gives boost to Abkhazian economy, rt.com 19.04.2011.
[15] Giorgi Lomsadze: Abkhazia’s Rebel Opposition Sets Sights on Customs Union, eurasianet.org 29.05.2014. Hier abrufbar.
[16] Peter Mühlbauer: Chaos in Abchasien, heise.de/tp/ 29.05.2014. Hier abrufbar.
[17] Friedrich Schmidt: Ein Umsturz von Moskaus Gnaden?, faz.net 28.05.2014. Hier abrufbar.
[18] Maciej Falkowski: Unrest in Abkhazia, osw.waw.pl 28.05.2014. Hier abrufbar.
[19] Jens Malling: Westliche Heuchelei in Abchasien, in: junge Welt, 12.04.2014. Hier abrufbar.
[20] Knut Mellenthin: Streitende Elite, in: junge Welt, 31.05.2014. Hier abrufbar. 

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